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DVDrome - das Blu-Ray und DVD Online-Magazin

REVIEWS



Amer   

Amer
    
Original: Amer   (Belgien, Frankreich, 2009)
Laufzeit: ca. 87 Min. (PAL)
Studio: Koch Media
Regie: Hélène Cattet, Bruno Forzani
Darsteller: Cassandra Forêt, Charlotte Eugène Guibeaud, Marie Bos
Format: 2.35:1 Widescreen (16:9)
Ton: DD 5.1 Deutsch, Französisch, DTS 5.1 Deutsch, Französisch
Untertitel: Deutsch
Extras: Booklet, Kurzfilme, Kommentar
Preis: ca. 10 Euro
Wertung: 2+/ 3+/ 2+ (Bild/Ton/Extras)


"Belgischer Giallo lässt vergessenes Genre aufleben"

Es ist ein heute fast vergessenes Kriminalgenre: Der Giallo. Dario Argento war ein Meister dieses italienischen Krimigenres. Beim Giallo ging es nicht unbedingt um die Entlarvung eines Mördes im klassischen Whodunnit-Modus (mit Mord, Aufklärung und Überführung), der Giallo war stets von einem unglaublich überhöhten Stilismus geprägt, von komponierten, aber irrealen Bilder. Das Verbrechen als solches wurde da nicht selten als ein sexueller Akt dargestellt. Die Protagonisten, das waren zumeist Frauen.
Manchen Filmen wurde Sexismus vorgeworfen. Die Darstellung der Frau als Objekt, das führte nicht selten zu Kontroversen. Allerdings greift diese Kritik rückblickend betrachtet zu kurz, denn im Giallo war die Frau auch stets der Mittelpunkt der Geschichte. Der Mann mochte glauben, er hätte die Macht (vor allem, wenn es sich um einen männlichen Mörder handelte, den es zu stellen gab), doch letztlich war der Mann im Giallo ein auf Instinkt reduziertes Wesen.

Die Grenzen zum Horrorfilm waren fließend, ein Film wie John Carpenters "Halloween" beispielsweise lässt Einflüsse des italienischen Giallos erkennen, Joe Dante ist, auch wenn es seine Filme kaum erahnen lassen, ein großer Fan des italienischen Giallos, die Kameraarbeit Mario Bavas ist für Dante bis heute wegweisend.

Heute sind Filme wie "Vier Fliegen auf grauem Samt", "Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe" oder sogar ein beeindruckender Horrorfilm wie "Suspiria", der in seiner in jeder Szene innewohnenden Überstilisierung den Giallo auf ein Niveau erhöht hat, das kein anderer Film dieser Art jemals wieder erreichen sollte, außerhalb von Fanzirkeln fast vergessen. Dass in Deutschland einige Filme sogar bis heute auf dem Index für jugendgefährdende Schriften stehen (oder gar beschlagnahmt sind), das tangiert so recht niemanden, denn offenbar gibt es für diese Filme keinen nennenswerten Markt mehr. Die Fans besitzen von ihren Lieblingsfilmen eh die amerikanischen, britischen oder italienischen DVDs, jüngeren Cineasten bleibt der Giallo weitestgehend fremd.

Um so erstaunlicher kommt aus dieser Perspektive betrachtet ein Film wie "Amer" des Weges. Nicht nur die Tatsache, dass diese französisch-belgische Produktion ihren Weg auf den deutschen DVD-Markt gefunden hat irritiert. Weitaus irritierender dürfte die Tatsache sein, dass es diesen Film überhaupt gibt! „Amer“ ist eine Verbeugung vor den Gialli, in letzter Konsequenz aber ist er auch so etwas wie deren vollkommene Stilisierung. Jedes Bild, aber auch wirklich JEDES, ist eine Komposition. Meist handelt es sich nur um Ausschnitte: Ein Teil eines Gesichts, eine behandschuhte Hand, ein Lächeln. Das Bild triumphiert über das Wort und geht mit dem Schnitt eine Symbiose ein, die so weit führt, dass der in drei Kapitel aufgeteilte Spielfilm im zweiten Kapitel sogar fast ohne Worte auskommt.

Im Mittelpunkt steht Ana. Im ersten Kapitel noch ein Kind, erlebt sie Seltsames im Haus ihres gerade verstorbenen Großvaters. Sind es Wahnvorstellungen, die sie heimsuchen? Oder ist es einfach kindliche Phantasie, die ihr Angst macht? Von ihrer Mutter hat sie keine Hilfe zu erwarten. Die treibt es neben dem Leichenzimmer lieber mit dem Herrn Papa, der ein Schwächling ist und seiner dominanten Frau nicht viel entgegen zu setzen hat: Einer Frau, die allein sich selbst in den Mittelpunkt setzt und gegenüber Ana eine verstörende Abneigung empfindet. Eine Abneigung, die sich im zweiten Kapitel erklärt: Ana wächst zu einer wunderschönen jungen Frau heran, während ihre Mutter langsam ihre Schönheit verliert.

Als Heranwachsende definiert sich Ana sexuell durch Provokation, sie sucht die Nähe von Männern, die Frauen als Objekte betrachtet. Doch Ana spielt mit ihnen, sie ist es, die durch ihre Provokation letztlich die Oberhand behält.

Im dritten Kapitel schließt sich der Kreis. Ana kehrt ins Haus des Großvaters zurück - und blickt einem Mörder ins Gsicht. Einem realen Mörder oder nur einer Reflektion ihrer Erlebnisse des ersten Kapitels?

Wer italienische Gialli mag, wird „Amer“ anbeten. Wer mit italienischen Thrillers dieser Art aus den 1970-er Jahren nichts anfangen kann, wird dem Geschehen dieses Filmes ratlos folgen.

Doch selbst wenn man "Amer" als "Fanfilm" bezeichnen möchte, so lässt sich leider eine Kritik nicht vermeiden: "Amer" fehlt es an Spannnung. Oder besser gesagt: Nach dem ersten - sauspannenden - Kapitel, das einem fast die Luft abschnürrt und allein mit seinen Bildern eine Atmopshäre steter Bedrohung aufbaut, bricht dieser Spannungsaufbau im zweiten Kapitel vollkommen in sich zusammen. Es fehlt am mysteriösen Element. Selbst das dritte Kapitel, das von einer direkten Konfrontation berichtet (und mit einem unfassbaren Epilog endet), kann diese Spannung nicht wieder herstellen.

BILD

Amer

Die Farben erinnern an seelige Technicolorzeiten. Knallig, rot, bunt. Das ist gewollt, denn Regisseure des Giallo-Zeitalters liebten kräftige, klare Farben ohne allzu viele Schattierungen. Dario Argento beispielsweise suchte für seinen Film "Inferno" einst in Osteuropa nach passendem Filmmaterial, um Farbeffekte zu erzielen, die ihm mit amerikanischen oder westeuropäischen Filmmaterial nicht gelungen wären. Heute hilft der Computer, die gewünschten Effekte zu erzielen. Auf jeden Fall kommen diese gut zur Geltung und verleihen dem Bild den gewünschten Retro-Touch.

TON

Amer

Der ist problematisch, denn es lässt sich nicht wirklich erschließen, ob der Sound etwas besser ausgepegelt hätte sein können, oder ob es sich tatsächlich um einen dramatischen Effekt handeln soll.

Wer die 30 überschritten hat, erinnert sich an Zeiten, in denen Filme auf Video präsentiert wurden. Und wenn eine Videokassette 50 mal aus der Videothek ausgeliehen wurde, litt darunter nicht nur die Bildqualität. Stille wurde da zum Rauschen, vor allem Filme aus der B-Ecke hielten solch ein Grundrauschen oft von der ersten bis zur letzten Minute mit beachtenswerter Bestäntigkeit durch. Und, was soll man sagen, auch "Amer" produziert von Zeit zu Zeit ein solches Rauschen. Was vor allem im zweiten, quasi stummen Kapitel auffällt.
Ist es ein gewollter Effekt oder hätte die DVD noch eine kleine Ton-Überarbeitung erfahren dürfen?

EXTRAS

Kurzfilme des Regieduos beweisen, dass der Herr und die Dame Filmemacher Filmfans sind, die nicht einfach einen Film gedreht haben, für den sie Geld bekamen. Nein, sie haben ihn gemacht, weil sie ihn machen wollten (und das Glück hatten, tatsächlich eine Finanzierung zu bekommen). Ein Booklet gibt Auskunft über das Genre und die Hintergründe. Das alles zusammen ergibt eine runde Sache.

FAZIT

"Amer" ist ein Fan-Film. Von Genre-Fans für Genre-Fans. Und wer etwas über Bildsprache und Bildkomposition lernen möchte, kommt an "Amer" nicht vorbei. Allerdings: Der Rest des Publikums wird dem Geschehen vermutlich mit vollkommener Ratlosigkeit folgen; die fehlende Spannung im Mittelteil ist darüber hinaus nicht dazu geeignet, neue Fans für dieses fast vergessene Genre zu generieren.



Christian Lukas